„Noch geht’s mir relativ gut, ich bin ja noch zwei Wochen da. Aber etwas mulmig wird’s mir schon beim Gedanken an den letzten Arbeitstag hier“, sagt Sozialpädagogin Annette zu Jeddeloh. Kein Wunder, schließlich ist sie seit Ende 2002 im Sozialdienst der Werkstatt Murrhardt der Paulinenpflege tätig. Damals hat ihr Chef entschieden, dass sie von der Hauptwerkstatt Backnang nach Murrhardt wechseln soll. „Die Kollegin in Murrhardt ging in Elternzeit und ich sollte zunächst kommissarisch ihre Stelle übernehmen. In dem Moment war ich von der Idee nicht so ganz begeistert. Murrhardt ist halt schon etwas weit ab vom Schuss“, erinnert sich Annette zu Jeddeloh. Es hat aber nur wenige Wochen gedauert und die Werkstatt Murrhardt war „ihr Baby“, was vor allem auch an den Beschäftigten lag: „Ich habe die Menschen mit Behinderung hier kennen und lieben gelernt. Zudem bin ich hier auf ein tolles Mitarbeiter-Team gestoßen. Und es hat durchaus auch Vorteile, wenn man etwas weiter weg ist von der Zentrale“, schmunzelt sie.
Daher war es Annette zu Jeddeloh auch nicht unrecht, als aus dem kommissarischen Job in Murrhardt ein unbefristeter wurde. In den gut 20 Jahren gab es viele Highlights, an denen sie federführend mitgewirkt hat: „Wir haben hier in meiner Zeit zum Beispiel das System der beruflichen Bildung umgestellt und an den allgemeinen Arbeitsmarkt angepasst“. Auch der Personenkreis der Werkstatt für behinderte Menschen wurde erweitert: „Ab 2013 haben wir uns auch am Standort Murrhardt für Menschen mit psychischer Beeinträchtigung geöffnet. Das war dringend notwendig, weil es viele aus dem Raum Murrhardt nicht schafften, in unsere Reha-Werkstatt nach Backnang zu fahren“, sagt die 57-jährige Sozialdienst-Mitarbeiterin. Inzwischen kommen rund 90% der Werkstatt-Neuzugänge aus diesem Personenkreis. Viele davon wohnen in Pflegeheimen und werden in der Werkstatt Murrhardt wieder ans Arbeitsleben herangeführt.
In ihre Schaffenszeit fallen viele weitere prägende Ereignisse, so auch die Corona-Pandemie. Auch hier hat sich der Werkstatt-Standort Murrhardt innovativ gezeigt: „Wir haben uns vom ersten Werkstatt-Lockdowntag an Gedanken gemacht, mit welchem Hygienekonzept schaffen wir es, unsere Menschen mit Behinderung und psychischer Beeinträchtigung wieder zurückzuholen. Ab der 2. Schließwoche mussten wir wieder in die Notbetreuung einsteigen, da es viele unserer Beschäftigten nicht ohne Arbeit ausgehalten haben. Und als die heißersehnte Öffnung für alle kam, gab es dank des guten Konzepts keinen Infektions-Hotspot, nur Einzelfälle, die wir schnell isolieren konnten. Und wir haben dadurch keine Arbeitsaufträge verloren“. Das vorausschauende Öffnungskonzept hat sich schnell rumgesprochen und so berichtete u.a. die „Landesschau Baden-Württemberg“ des SWR-Fernsehen über die WfbM Murrhardt.
Es gäbe noch viel zu erzählen, was Annette zu Jeddeloh mit ihrem Team in zwei Jahrzehnten noch so alles gewuppt hat, z.B. auch den alljährlichen Weihnachtsgottesdienst in der Stadtkirche Murrhardt, in der ihre Beschäftigten beim Krippenspiel im Mittelpunkt standen. „In Murrhardt beginnt die Vorweihnachtszeit erst, wenn die Paulinenpflege mit uns den Gottesdienst feiert“, sagte vor kurzem der Murrhardter Gemeindepfarrer. Der Gottesdienst ist ein echtes Inklusions-Projekt ohne dass er so bezeichnet wurde. „Mir war es immer wichtig, dass unsere Menschen mit Behinderung und psychischer Beeinträchtigung in der Gesellschaft sichtbar werden. Deshalb bin ich der Paulinenpflege auch dankbar, dass sie u.a. bei Facebook und Instagram unseren Beschäftigten ein Gesicht gibt. Die sind unheimlich stolz drauf, wenn sie dort zu sehen sind und sich und ihre Arbeit präsentieren können.“
Und genau die, also „ihre Leute“, werden ihr jetzt fehlen, wenn sie aus familiären Gründen umzieht und zukünftig im Regionalmanagement des Landkreises Euskirchen arbeitet: „Unsere Beschäftigten haben eine Wahnsinns-Empathie und eine unfassbare Wahrnehmung und Ehrlichkeit für andere. Zudem ist die Lebensfreude dieser Menschen bewundernswert und total ansteckend. Wenn ich dann immer wieder in der Gesellschaft höre ‚Was haben die denn für ein Leben?‘, muss ich sagen: Schaut doch bitte bei uns vorbei und ihr werdet merken: Jedes Leben hat seinen Wert. Das nehme ich auch in meine neue Arbeit mit. Ich habe von meinen Beschäftigten mehr profitiert als sie von mir.“
Vermissen wird sie noch mehr: „Die Paulinenpflege ist als Arbeitsgeber schon eine Nummer für sich. Das was sie für ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ermöglich, ist schon besonders. Ich habe mich hier immer gut aufgehoben gefühlt Es war toll ein Teil eines Sozialunternehmens zu sein, das immer vorne dran war, wenn es darum ging, sich neuen Herausforderungen zu stellen.“