„Malen – das ist nur was für Kinder“ – das war die erste Reaktion von Erwin Macht als er kurz nach seiner Berentung gefragt wurde, ob er nicht in der Seniorenwerkstatt der Paulinenpflege Winnenden etwas Kreatives machen will. Bis zu diesem Zeitpunkt war der gehörlose Erwin Macht ein eifriger Schaffer auf dem landwirtschaftlichen Betrieb der Paulinenpflege, dem Paulinenhof. Auch nach seiner Pensionierung hilft er dort noch halbtags mit, kann sich vom Paulinenhof zunächst nicht trennen. Erst mit 67 Jahren zieht er einen Schlussstrich unter sein bisheriges Arbeitsleben und entscheidet sich, in die Seniorenwerkstatt zu gehen und ist auch dort inzwischen ein Urgestein. In den nächsten Tagen lebt er 60 Jahre in der Paulinenpflege Winnenden e.V.
Auch wenn er heute nicht mehr von den Wachsmalkreiden wegzudenken ist, bei seiner Berentung sieht er den Malern in der Seniorenwerkstatt ziemlich skeptisch zu – er knüpft lieber Teppiche oder töpfert. Ein anderer Bewohner, der mit Begeisterung Vögel malt, steckt ihn an und plötzlich malt auch Erwin Macht. Inspirieren lässt er sich u.a. von van Gogh, Kandinsky und Paula Modersohn-Becker – dazu holt er sich große Bildbände aus der Stadtbücherei. Zudem fließt auch viel eigenes ein, Erwin malt Motive aus seinem Leben: Natur, Tiere und Pflanzen.
Allerdings hat er nicht nur auf diese Art und Weise viel zu erzählen – gemeinsam mit Schülern, die im Rahmen eines Diakoniepraktikums in der Paulinenpflege waren, hat er vor ein paar Jahren auf einer Litfasssäule seine Biographie erstellt. Von der Kindheit in Ostken/Preußen, die Flucht mit seinen Eltern und der Schwester nach Deutschland und die Aufnahme in die Paulinenpflege 1945, über die Arbeit in der Landwirtschaft auf dem Paulinenhof bis hin zu seinen heutigen kreativen Tätigkeiten ist hier alles zu finden.
Besonders auffällig ist bei Erwin Macht seine „stattliche Figur“, er legt großen Wert auf sein Äußeres. Es ist ihm heute noch anzusehen, dass er seine Kindheit auf einem Gutshof im Masurenland verbracht hat. Ausgestattet wurde er jahrelang von seiner Schwester, die in Mannheim bei einem Herrenausstatter gearbeitet hat. Bei Reitausflügen auf dem Paulinenhof saß er nicht nur fest im Sattel, sondern aufrecht wie ein „majestätischer Reiter“.
Bei Ausstellungsgottesdiensten der Seniorenwerkstatt und bei der Demo gegen die Novellierung des BSHG in der Villa Reitzenstein Stuttgart sammeln sich Menschentrauben vor Erwin Machts Litfasssäule. Stolz berichtet er über sein bewegtes Leben und kommt so auch als Gehörloser mit Hörenden „ins Gespräch“. Die Interessierten erfahren dabei nicht nur erstaunliches über die Welt der Gehörlosen, sondern erleben ein echtes Original und somit ein Stück Geschichte völlig neu.
Trotz allem Trubel ist Erwin Macht nie abgehoben – im Gegenteil: Bis vor kurzem engagierte er sich als Heimbeirat in der Paulinenpflege und setzt sich auch sonst für die Schwächeren in der diakonischen Einrichtung ein.
Am 5. September feiert Erwin Macht sein Jubiläum mit einem Kaffeenachmittag. Eingeladen hat er viele seiner Wegbegleiter durch ereignisreiche 60 Jahre in der Paulinenpflege. Auf die Frage, wer denn kommen soll, antwortet er nur freundlich, aber bestimmt: „Alle!“