„Gerade bebt es ab und zu so sehr, dass der Tisch wackelt“, erzählt Heidi im großen Esszimmer der „Alten Post“ in Backnang. Sie wohnt seit Anfang März mit 18 weiteren Bewohnern im neuen Wohn- und Begegnungszentrum der Paulinenpflege Winnenden fast mitten in Backnang. Das Beben zeigt, dass in dem großen Haus noch nicht alles perfekt fertig ist und an einigen Ecken weiterhin gebaut und gewerkelt wird. Dennoch sind die Bewohner, die bisher im Wohnheim am Plattenwald gelebt haben, stolz auf ihre neue Heimat. Edmund, Harald und Katja stehen begeistert auf der großen Dachterrasse mit Blick über Backnang: „Die Aussicht ist so schön und wenn das Wetter passt, werden wir die Terrasse bald mit einem Grill einweihen“, erzählen sie.
Lange hat das ehemalige Postareal in der Backnanger Bahnhofstraße vor sich hingeschlummert. Im Jahr 2000 zog dort die Post in Richtung Biegel aus - seitdem wurde überlegt, was mit dem Gebäudekomplex passiert. Ende 2010 hat die Paulinenpflege Winnenden das Hauptgebäude in der Bahnhofstr. 8 gekauft. Die diakonische Einrichtung war damals auf der Suche nach einer neuen Bleibe für ihre Menschen mit Behinderung aus dem ins Alter gekommene Wohnheim am Plattenwald. Das Gebäude am Stadtrand von Backnang entsprach nicht mehr den neuen Vorschriften der Landesheimbauverordnung.
Geplant wurde nun nicht nur ein Ersatz für die Wohngruppe im Haus Plattenwald, sondern ein inklusives Wohn- und Begegnungszentrum mit Wohnungen, stationären Wohnplätzen, Freizeit- und Bildungsbereich für Menschen mit Behinderung sowie Räumen für die Lebenshilfe Rems-Murr e.V. Baubeginn war im Sommer 2013. Auch der Seniorentreff für Menschen mit Behinderung, die in Rente sind, hat Räume in der neuen „Alten Post“ der Paulinenpflege. Insgesamt hat das Gebäude eine Nutzfläche von 1.574 Quadratmeter auf fünf Stockwerken verteilt.
Nach einem aufregenden Umzug, der schon lange vorbereitet wurde, haben sich die meisten Bewohner gut eingelebt. Sie genießen den neuen Wohnkomfort. Neu ist zum Beispiel, dass es größere Zimmer gibt als im Wohnheim am Plattenwald, außerdem teilen sich jetzt nur noch zwei Zimmer eine Nasszelle. Um bei den Bewohnern auch das selbständigere Wohnen noch besser fördern und ermöglichen zu können, gibt es vier eigenständige Appartements innerhalb des Wohnbereichs in der Bahnhofstr. 8. Dadurch, dass die Bewohner nun auf verschiedene Stockwerke verteilt sind, kann das Wohnen individueller gestaltet werden. „Auf einem Stockwerk hat sich eine Mädelsgruppe gebildet. Jetzt können die Damen am Sonntag auch mal Rosamunde Pilcher anschauen und nicht den Tatort. Es kommen auch bisher schüchterne Bewohnerinnen ins Wohnzimmer, die im Haus Plattenwald lieber auf ihrem Zimmer geblieben sind“, erzählt Mitarbeiterin Waltraud Kühlmann.
Aber nicht nur das Wohnen ist verbessert worden: Bewohner Dieter freut sich zum Beispiel, dass er nun nicht mehr mit dem Bus in die Stadt fahren muss, sondern zu Fuß zum Wochenmarkt in die Backnanger Fußgängerzone kommt. Dorothea ist begeisterte Cafebesucherin – der Weg zu „ihrem“ Cappuccino ist nun auch nicht mehr so weit wie früher. Wohngruppenleiter Ralph Bihlmaier freut sich mit: „Nach der anfänglichen Skepsis und auch etwas Angst vor dem, was da Neues kommen mag, nehmen unsere Bewohner immer mehr die Vorzüge des Wohnens mitten in der Stadt wahr. Es ist auch schön, dass wir jetzt durch die räumliche Nähe noch mehr zu Backnang gehören und wahrgenommen werden“.
Gelebte Inklusion hat sich die Paulinenpflege Winnenden auf die Fahnen geschrieben und die wird im Wohn- und Begegnungszentrum „Alte Post“ nach und nach umgesetzt. In den nächsten Wochen zieht die Lebenshilfe Rems-Murr e.V. ebenso ein wie der Freizeit- und Bildungsbereich „Club Paula“ der Paulinenpflege. Die zahlreichen Freizeit- und Bildungsangebote richten sich nicht nur an die Bewohner der Bahnhofstr. 8, sondern an alle interessierten Menschen mit und ohne Behinderung aus dem Raum Backnang. Als Treffmöglichkeit gibt es dann ein kleines Bistro mit Internet-Café und regelmäßigen Vorträgen oder Fortbildungen. Ebenso ist eine Kooperation mit der Volkshochschule Backnang angedacht, die in das Nebengebäude ziehen wird.
Somit ist in der historischen Hülle der „Alten Post“ in Backnang eine topmoderne und barrierefreie Einrichtung entstanden, in der sich die Bewohner wohlfühlen sollen, aber auch Besucher von außerhalb stets willkommen sind.
Mit der Einweihung des Wohn- und Begegnungszentrums startet auch die Aktion „Ich schenke eine Begegnung“. Hier können Backnanger Bürger den Bewohnern der „Alten Post“ eine Begegnung mit sich schenken. Egal, ob ein Bummel über den Wochenmarkt, einen gemeinsamen Kinobesuch oder einen Besuch in einem Café in Backnang – der Kreativität und den Ideen sind keine Grenzen gesetzt. So schenkt die Backnanger Band „Soundwert“ den Bewohnern ein Benefizkonzert. Dabei ist der Geldwert nebensächlich – es zählt vor allem die Begegnung und die Zeit, die jemand investiert. Begegnungs-Geschenkkarten sind in der Innenstadt von Backnang ausgelegt oder können auch hier online ausgefüllt werden.