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Gehörlosen und Hörenden erklären wie die jeweils andere Welt tickt

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Seit gut einem Jahrzehnt sind Marion Rüdinger und Stefanie Lunczer Beraterinnen und Vermittlerinnen für die gehörlose und die hörende Welt im Rems-Murr-Kreis, Kreis Esslingen, Böblingen und Tübingen und Reutlingen. Die Themen reichen von vor der Geburt bis zum Tod.

„Wir fühlen uns den vielen gehörlosen Menschen im Land verpflichtet“ war 2009 sowas wie der Gründungsspruch für die Beratungsstelle für gehörlose Menschen im Rems-Murr-Kreis. Mit großem Nachdruck gesagt wurde dieser vom damaligen Vorstand der Paulinenpflege, Thomas Weinmann. Bei der Auflösung des Landeswohlfahrtsverbands waren nämlich in ganz Baden-Württemberg große Beratungslücken für Menschen mit Hörbehinderung auf der Landkarte entstanden. „Und da sprang die Paulinenpflege in die Bresche“, erinnert sich Sozialpädagogin Stefanie Lunczer.

Damals war sie schon als Sozialdienst für die hörbehinderten Azubis des Berufsbildungswerks in der Paulinenpflege tätig und brachte schon einige Gebärdensprachkenntnisse und Erfahrungen mit. „Das hat allerdings bei weitem nicht gereicht, da es bei der Beratungstätigkeit viele spezielle Gebärdenvokabeln gibt. Die musste ich mir nach und nach draufarbeiten“, sagt Stefanie Lunczer.

Dagegen wurde ihre Kollegin und Sozialpädagogin Marion Rüdinger 2010 so ziemlich ins kalte Wasser geworfen. „Mich hat die Ausschreibung der Paulinenpflege für die Beratungsstellen im Kreis Esslingen, Böblingen und Reutlingen damals angesprochen. Kurz vorher hatte ich eine Zeit in Argentinien verbracht. Dort hat die indianische Sprache und Kultur einen ähnlichen Minderheitenstatus wie die Gebärdensprache bei uns. Daher hat mich das besonders interessiert. Allerdings hatte ich bis dahin keine großen Berührungspunkte mit gehörlosen Menschen“, erinnert sich Marion Rüdinger. Und so war sie in den ersten drei Monaten u.a. mit dem Lernen der Gebärdensprache-Basics, Kooperationspartner kennenlernen und Bürosuche beschäftigt. „Schön war, dass in den ersten Monaten z.B. die gehörlosen Senioren, die zu mir in die Beratung kamen, Brücken gebaut haben. Sie konnten auch die Lautsprache und so war die Verständigung in Gebärdensprache für mich einfacher“, freut sich Marion Rüdinger.

Brückenbauen ist für Marion Rüdinger und auch für Stefanie Lunczer bis heute eine der Hauptaufgaben in ihren Beratungsstellen: „Wir müssen der hörenden und der nicht-hörenden Welt erklären, wie die jeweils andere tickt. Somit wenden sich nicht nur hörbehinderte und gehörlose Menschen in der Einzelfallarbeit an uns, sondern z.B. auch, Behörden, andere Beratungsdienste und Schulen. Sie wollen wissen, wie man mit nicht-hörenden Leuten umgeht“ sagt Stefanie Lunczer. Zum Start der jeweiligen Beratungsstellen gab es diesbezüglich in den Landkreisen jeweils deutliche Unterschiede: „Während der Rems-Murr-Kreis durch die Paulinenpflege schon teilweise Ahnung von dem Umgang mit Gehörlosen hatte, war das in den anderen vier Landkreisen so ziemliches Neuland“, so Marion Rüdinger.

An eine der ersten Klienten ihrer Beratungsstelle im Jahr 2010 erinnert sie sich noch ziemlich genau: „Das war eine hörbehinderte Familie, mit teilweise auch psychisch erkrankten Familienmitgliedern. Damals ging es u.a. um Schuldentilgung und das Organisieren von professioneller Pflegeunterstützung, damit die Familie wieder weitestgehend selbständig leben kann. Ein großer Brocken, aber wir konnten zur Unterstützung ein gutes Netzwerk aufbauen.“

Die Themen, die die Hilfesuchenden mitbringen sind bunt gemischt: „Wir müssen alles abdecken, was das Leben mit sich bringt – von vor der Geburt bis zum Tod. Das macht es spannend, ist aber auch ständig eine Herausforderung, weil wir uns in viele verschiedene Themen einarbeiten müssen. Die gehen nie aus, denn es kommen ständig neue dazu. Egal, ob in der Flüchtlingskrise oder während der Pandemie. Jetzt geht’s gerade ganz aktuell um das Bürgergeld oder die Umstellung des Wohngelds. Es reicht aber nicht aus, dass wir das alles selbst verstehen, denn wir müssen das Wissen dann so runterbrechen, dass es unsere Klientinnen und Klienten verstehen und nachvollziehen können.“

Eine große Herausforderung in den letzten Jahren war die Digitalisierung während der Corona-Zeit für Senioren mit Hörbehinderung. „Wir haben in Reutlingen in Zusammenarbeit mit dem Gehörlosenverein und dem Diakonieverband Reutlingen ein kleines Fortbildungsangebot für die älteren Herrschaften entwickelt. Da ging es u.a. darum: Wie lade ich einen Messenger aufs Handy runter oder wie bediene ich einen Laptop?“, erzählt Marion Rüdinger.

In der langen Zeit als Beraterinnen gab es auch viele ganz besonders positive Erlebnisse: „Vor kurzem wurde ich von tauben Ukrainern, die in Räumen der Paulinenpflege untergekommen sind und die ich unterstütze, eingeladen. Sie haben mir dann gemeinsam ein nachträgliches kleines Weihnachtsgeschenk überreicht. Da war ich echt gerührt, zumal ich bei der Unterstützung sehr viel Zeit investiert hatte“, freut sich Stefanie Lunczer. Ihre Kollegin erinnert sich an einen Migranten mit Hörbehinderung: „Ich hatte nach vielen Beratungssitzungen lange Zeit den Kontakt zu ihm verloren. Und nach drei Jahren habe ich erfahren, dass unsere Arbeit Früchte getragen hat. Er hat inzwischen einen Arbeitsplatz und ist gut integriert. Solche Nachrichten motivieren ungemein.“

Und nicht nur bei diesen Erinnerungen merkt man den beiden Sozialpädagoginnen an, dass sie ihre Arbeit mit viel Herzblut machen: „Wir haben so ein breites Aufgabenspektrum, da wird es nie langweilig. So abwechslungsreiche Jobs gibt es selten.“ So gehört für Stefanie Lunczer auch ein monatlicher Elterntreff für gehörlose Mütter und Väter mit Bildungs- und Erziehungsthemen zu ihrem Aufgabengebiet. Finanziert wird die Arbeit der Beraterinnen zur Hälfte von den jeweiligen Landkreisen und von der Paulinenpflege.

Natürlich bleiben auch Wünschen offen: Neben einer Erhöhung der Stellenanteile wegen einer langen Warteliste wünschen sich die Beiden für die Klientinnen und Klienten, dass gehörlose Menschen z.B. nicht bei jeder Gelegenheit für Gebärdensprachdolmetscher kämpfen müssen. Oder dass es mehr Wohnangebote für gehörlose Jugendliche und Senioren gibt. Und: „Deutschland ist einfach ein großes Bürokratiemonster. Wenn sich das mal ändern würde, wäre nicht nur uns sehr geholfen!“

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