"Rockmusiker Wolle Kriwanek arbeitet als Lehrer in der Bodenwaldschule der Paulinenpflege Winnenden
Am Wochenende auf der Bühne im Scheinwerferlicht, ab Montag wieder im fahlen Licht der Neonröhren in der Außenklasse Backnang der Bodenwaldschule, die zur Paulinenpflege Winnenden gehört: Das ist der Wochenplan von Rockmusiker und Sonderschullehrer Wolle Kriwanek. Hin- und hergerissen ist Wolle Kriwanek überhaupt nicht, schon gar nicht eine gespaltene Persönlichkeit. So normal ohne Starallüren wie er jetzt in seinem Schulbüro in Backnang mir gegenüber sitzt, so kennen ihn seine Fans auch von der Bühne.
Sieben bis neun Schülerinnen unterrichtet er gemeinsam mit einer Kollegin tagtäglich. Das allerdings nicht in einem normalen Schulgebäude, sondern in einem gemütlichen Wohnhaus inklusive Küche. Im „Klassenzimmer“ stehen dann auch unübliche Schulutensilien wie z.B. Sessel oder eine Couch. In die Außenklasse der Bodenwaldschule kommen Schülerinnen, die normalerweise in die Klassen 7 bis 9 gehen müssten, aber schon längere Zeit keine Schule mehr von innen gesehen haben. Um diese Mädchen weiter zu bringen und zu motivieren, muss Kriwanek oft zu ungewöhnlichen Lehrmethoden greifen: „Schule muss bei uns Spaß machen. Unser oberstes Lernziel ist: Zuerst sich selbst und andere aushalten, dann kommt erst der Hauptschulabschluss. Ich kann mir bei diesen Schülerinnen nicht leisten, der sture Lehrer zu sein. Die Mädels wissen, dass Sie freiwillig hier sind.“
Natürlich hilft ihm dabei die Musik und sein Status als „Rockmusiker“. Wer hat schon einen Lehrer, der gemeinsam mit den Schülern den neusten Song von Britney Spears gemeinsam im Unterricht singt. Außerdem helfen Kriwaneks Connections natürlich auch, außergewöhnliche Schulausflüge z.B. zu Musicals oder Konzerten erschwinglich zu organisieren. Und es gibt noch weitere Verbindungen zwischen Schulalltag und Musik: Demnächst erscheinen englische Songs für Grundschüler in Englischlehrbüchern, geschrieben hat Wolle Kriwanek die Lieder im Urlaub in Kroatien.
Genauso wie er auf der Bühne für seine Fans vollen Einsatz bringt, so arbeitet Wolle Kriwanek auch in seiner Außenklasse: Seine Schülerinnen können ihn rund um die Uhr anrufen, wenn’s zu Hause Knatsch mit den Eltern gibt oder der Freund Kummer macht, Kriwanek hat immer ein offenes Ohr. Sagt’s und schon geht die Tür zu seinem Büro auf und ein Teil der Klasse steht da, um mal kurz „Hallo“ zu sagen.
Da die Außenklasse weit ab von der „Zentrale“ in Winnenden ist, sind Kriwanek und seine Kollegin nicht nur Lehrer, sondern gleichzeitig auch noch Hausmeister und Sekretärin, aber das nehmen die Zwei gerne in Kauf: „Ich genieß die Diaspora, wir brauchen hier eine größtmögliche Freiheit und kein ideologisches Korsett,“ so Kriwanek über den etwas anderen Arbeitsplatz.
Und schon klingelt das Telefon: Eine Neuaufnahme steht an. Ein Mädchen, das bisher auf die Hauptschule ging, soll in den nächsten Tagen mal reinschnuppern. „Nein, die Akte will ich im Vorfeld nicht lesen. Ich will erst den Menschen kennen lernen und mir selbst ein Bild machen“ sagt Kriwanek zur Mitarbeiterin der Wohngruppe, in der der Neuzugang derzeit wohnt. Erst wenn die Schülerinnen ein paar Wochen da sind, greift er auf die Vorgeschichte zurück und meist decken sich die Erfahrungen seiner Kollegen mit seinen.
Auch wenn Wolle Kriwanek die Arbeit sichtlich Spaß macht, gibt’s in seinem Lehrer-Job immer wieder Rückschläge: „Auch wir scheitern“ schätzt er die Lage realistisch ein. So gibt’s in gemischten Klassen der Bodenwaldschule immer wieder größere Probleme Hier zeigt sich immer öfter, dass Koedukation in diesem Personenkreis nicht sehr förderlich ist. Die Mädchen werden gemobbt, es kommt zu Übergriffen durch die Jungs. Auch der Start der Außenklasse vor vier Jahren war schwierig – zuerst waren bei ihm nur Jungs, „eine hochexplosive Mischung“. In der neuen Konstellation, also nur Mädchen, ist Ruhe eingekehrt – die Chemie stimmt zwischen Wolle Kriwanek, seiner Kollegin Frauke Ben Salem und den Mädels.
Trotzdem stellt sich die Frage: Warum tut sich ein erfolgreicher Rockmusiker auch noch einen doch ziemlich anstrengenden Lehrer-Job an? Immerhin ist er schon mal aus dem Lehrerberuf ausgestiegen, war von 1980 bis 1986 für seine Rockkarriere beurlaubt und hatte einen großen Plattenvertrag sicher in der Tasche. „1986 ist meine Beurlaubung als Lehrer ausgelaufen. Gleichzeitig wollte mir meinen Plattenfirma ab sofort vorschreiben, wie meine Songs klingen sollen. Da hab ich den Plattenvertrag von meiner Seite aus gekündigt, verbiegen lassen wollte ich mich nicht und bin wieder als Lehrer eingestiegen.“
Natürlich ist er der Musik treu geblieben – ohne Knebelvertrag, dafür bei einer kleineren Plattenfirma. Und der Erfolg gibt ihm recht, seinen eigenen Kopf durchzusetzen: Ob die VfB-Hymne oder ein Song zu den olympischen Spielen, Wolle Kriwanek ist immer wieder in den Charts zu finden und das nicht nur in Deutschland, sondern vor kurzem auch in den Top 100 in Japan. „Ich hätte es mir nie zugetraut, dass es mit meiner Musik so lange gut geht“, staunt auch der Musiker selbst über seine Erfolge. So ganz nebenher schreibt Kriwanek auch noch das Musical „Der 12-Ton-Kavalier“, das demnächst in Atlanta Premiere hat. Außerdem steht die Veröffentlichung seiner neuen Platte „Zucker und Salz“ an. Trotz seiner eigenen Erfolge vergisst er auch im Showbiz den Nachwuchs nicht: Als Vorstandsvorsitzender der Rockstiftung Baden-Württemberg fördert er Nachwuchs-Bands und die Pläne für Popakademie wurden auch von ihm mitentwickelt.
Für Wolle Kriwanek ist sein Musikerleben der Ausgleich zum Schulalltag: „Es ist unglaublich, aber ich freue mich nach einem Konzertwochenende wieder richtig auf die Schule.“ Dass die Bodenwaldschule zu einer diakonischen Einrichtung gehört, passt zu Kriwaneks Wurzeln: Er kommt aus der Pfadfinderbewegung. Früher hat er sogar mit dem Gedanken gespielt, mal Pfarrer zu werden. „Ich steh zur Diakonie, spiele sogar öfter Konzerte in anderen diakonischen Einrichtungen. Ich fühle mich wohl hier. Die Diakonie bietet in unserer Schule die Rahmenbedingungen und die stimmen.“ Gleichzeitig warnt Kriwanek aber auch vor einem diakonischen Tunnelblick: „Es muss möglich sein, dass wir hier kritisch miteinander umgehen ohne ständiges Schulterklopfen, aber in freundlicher Atmosphäre. Wir sind alle nicht heilig, auch wenn wir in der Diakonie arbeiten.“
Damit ist klar: Wolle Kriwanek braucht beides - die Musik und die Schule. Aber egal, ob auf der Bühne oder im Klassenzimmer: Wolle Kriwanek ist er selbst geblieben und damit kein Star, sondern eine echte Persönlichkeit!"
Matthias Knödler für die Zeitschrift „Konsequenzen 6/02“