Seit 2009 ist das Thema des Missbrauchs in Institutionen ins Bewusstsein einer größeren Öffentlichkeit getreten. Je mehr über die Verhältnisse in anderen Einrichtungen und Heimen bekannt wurde, desto größer wurde die Ahnung bei uns, dass wahrscheinlich auch die Paulinenpflege keine Ausnahme gewesen ist. Denn viele der Verhältnisse und der äußeren Umstände waren hier genauso, wie in allen anderen Heimen auch.
Im Juli 2018 informierte ein ehemaliges Heimkind die Paulinenpflege über Gewalterlebnisse Anfang der 70er Jahre in der Jugendhilfe. Die Paulinenpflege beauftragte daraufhin das Institut für Geschichte der Medizin der Robert-Bosch-Stiftung mit der wissenschaftlichen Aufarbeitung der Zeit von 1945 bis 1983. Das Institut betraute den Historiker Dr. Sebastian Wenger mit der Aufgabe. Die Ergebnisse sind jetzt in Buchform erhältlich.
Das Buch "Gewalterfahrungen von hörenden und gehörlosen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen in der Paulinenpflege Winnenden von 1945 bis 1983" kann kostenlos bei der Paulinenpflege per eMail bestellt werden: presse@paulinenpflege.de
Vorstand Andreas Maurer schreibt zu den Ergebnissen der Aufarbeitung:
„'Wer vor der Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind für die Gegenwart' (Richard von Weizsäcker). Der hier vorgelegte Bericht ist daher kein Endpunkt. Er schließt zwar die Aufarbeitung der Nachkriegszeit bis 1983 ab. Für unsere Arbeit heute und in Zukunft aber ist er ein Doppelpunkt. Er wird uns eine Mahnung bleiben, nicht in dem Bemühen nachzulassen, das was in unserer Macht steht zu tun, um Missbrauch zu verhindern. Er soll uns mahnen sicherzustellen, dass Menschen, die sich den Mitarbeitenden der Paulinenpflege anvertrauen, auf einem hohen professionellen Niveau die Unterstützung erfahren, die sie benötigen.
Ich hoffe sehr, dass unsere Gesellschaft auch in Zukunft bereit ist, die finanziellen Ressourcen bereitzustellen, die nötig sind, damit qualifizierte Fachkräfte diese Arbeit machen können, und dass sie sie machen können ohne ständig an ihre Grenzen zu stoßen, weil es an qualifiziertem Personal fehlt. Dazu wird es in Zukunft auch gehören, soziale Berufe im Verhältnis zu anderen Berufen angemessen zu vergüten. Nur so können wir gewährleisten, dass sich weiterhin Menschen finden, die bereit sind, sich den einerseits sinnstiftenden und daher sehr motivierenden Aufgaben zu stellen, die aber andererseits in vieler Hinsicht sehr herausfordernd sind. So können wir als Gesellschaft als Ganzes wesentlich dazu beitragen, dass Verhältnisse wie in den Jahren nach 1945 sich weder in der Paulinenpflege noch andern Orts wiederholen.
„Gott will, dass allen Menschen geholfen werde!“ Das war ein Motiv von Friedrich Jakob Heim, dem Gründer der Paulinenpflege Winnenden. Die Paulinenpflege steht bis heute bewusst in dieser Tradition. Dazu gehört auch, dass wir dafür Sorge tragen, dass keine Menschen durch die Paulinenpflege Schaden nehmen.
Dem fühlen sich nicht nur mein Kollege Carlo Noé und ich uns als Vorstand verpflichtet, dahinter stehen auch die über hundert Führungskräfte der Paulinenpflege. Wir alle setzen uns gemeinsam mit allen Mitarbeitenden mit den uns zur Verfügung stehenden Möglichkeiten und Mitteln für das Wohl unserer Klientinnen und Klienten ein. Wir sind durch den vorliegenden Bericht über den Missbrauch von Macht und Gewalt gegenüber Menschen, die hier gelebt haben, in besonderer Weise sensibilisiert. Und wir werden mit unseren vielen engagierten Mitarbeitenden wachsam bleiben, um mit fachlicher Kompetenz und unter Anwendung der Schutzkonzepte wo immer möglich zu verhindern, dass sich Ähnliches wiederholt oder in anderer Weise Menschen in der Paulinenpflege Schaden zugefügt wird. Wir wollen, dass die Paulinenpflege ein sicherer Ort für all die ist, die bei uns Unterstützung suchen, ein Ort, an dem die jedem dieser Menschen eigene Würde zum Tragen kommt und an dem sie Wertschätzung erfahren."
Die "Winnender Zeitung" hat in ihrer Ausgabe vom 13.5.2022 über die Ergebnisse der Aufarbeitung berichtet.
Der ehrenamtliche Stadtgeschichtsforscher, Lehrer und Kulturbeauftragte am Lessing-Gymnasium Martin Baier schreibt auf seinem Instagram-Account @winnendergeschichte zur Aufarbeitung in der Paulinenpflege: "Selten hatte man in Winnenden so deutlich das Gefühl, einen geschichtlichen Wendepunkt zu erleben. Die Vorstellung von Sebastian Wengers erschütterndem Bericht war ein solcher Wendepunkt. Das liegt auch daran, dass sich die Paulinenpflege ihrer Geschichte stellte und Relativierungsversuche entschieden zurückwies; im Beisein von Betroffenen haben Sebastian Wenger und Andreas Maurer klare Worte gefunden.
Nichts wird entschuldigt und bagatellisiert, nichts beschönigt. Die Akten sprechen für sich. Von Anfang an wird an diesem Abend klar: Es geht nicht allein um Einzeltäter, um "schwarze Schafe"- damit hätte man es sich zu leicht gemacht. Es geht um eine Kultur des Wegschauens und Mittragens, um eine Gesellschaft, die das Leid der Verletzlichsten, der Ohnmächtigen und Ausgelieferten nicht sehen wollte. Die bundesrepublikanische Verdrängungsgesellschaft der Fünfziger und Sechziger hatte keine Worte für seelische Not - und noch viel später hörte man, Sozialpolitik sei Träumerei, eine verzichtbare Wohltat. Manche glauben immer noch, der Staat gehöre den Gesunden, den Starken, den Leistungsfähigen; Menschen in Sozialberufen werden oft nicht leistungsgerecht bezahlt.
Aber auch das ist deutlich geworden: Vieles hat sich verbessert - zumindest an der Paulinenpflege ist man von den bedrückenden Verhältnissen der Nachkriegszeit himmelweit entfernt. Auch mit der Aufarbeitung alten Leids wird neues verhindert. An der Paulinenpflege hat man erkannt, dass Schatten nur schwärzer werden, wenn man sie vertuscht; dass eine Berufung zur Wahrheit wichtiger ist als das, was manche für den "guten Ruf" halten. Die Objektivität und Aufrichtigkeit dieses Vorgehens ist heilsam - für die Menschen der Paulinenpflege, aber auch für alle, denen die Geschicke des Hauses am Herzen liegen. Wer bis jetzt nicht begriffen hat, wie wertvoll die Paulinenpflege für Winnenden ist, lese diesen Bericht - er wird weder Sebastian Wenger noch der Paulinenpflege seine Anerkennung versagen können."