Zunächst wohnten diese Menschen in Wohngruppen im Stadtbereich Winnenden, im Jahr 2002 packten dann dort 25 Bewohner ihre Koffer: Die Wohnstätte mit Tagesförderung „Blaue Arche“ wurde in direkter Nachbarschaft zum Paulinenhof bei Hertmannsweiler eröffnet. Auf den ersten Blick ist dies im Alltag der Paulinenpflege mit über 1.000 betreuten Menschen nichts besonderes, doch für die Menschen mit Behinderungen war dies ein ganz großer Schritt in Richtung Selbstbestimmung.
Dabei sieht der große Zaun, der sich rund um die „Blaue Arche“ schlängelt, nicht gerade nach Freiheit und Selbstbestimmung aus. Doch Tobias Janouschek, als Abteilungsleiter in den „Wohnangeboten Behindertenhilfe“ lange Zeit für die „Blaue Arche“ zuständig, klärt auf: „Unsere Bewohner haben durch den Zaun sehr viel mehr Freiheiten als zu Zeiten, in denen sie ohne Zaun mitten in der Stadt gewohnt haben. Damals konnten sie nie allein raus und mussten immer warten, bis ein Mitarbeiter sie begleitete. Jetzt sind sie viel eigenständiger und bestimmen selbst, wann sie raus wollen. Insgesamt sind es fast 5.000 m² Grünfläche“. Dass sich die Bewohner in ihrer Arche wohl und geborgen fühlen, zeigen Fakten wie, dass es seit zehn Jahren fast keine Einweisung in die Psychiatrie gab. Das Aggressionspotential, das in der Stadt noch sehr hoch war, ist stark gesunken. Das tut Bewohnern wie Mitarbeitern gut.
Wichtig ist für die Arche-Bewohner nicht nur, möglichst viel Fläche zum „Austoben“ zu haben, sondern auch, dass Wohnen und Beschäftigung an einem Ort stattfindet. So können die Bewohner zwischen Wohngruppe und Tagesfördergruppe hin- und herwechseln. Es gibt keinen genauen Stundenplan, wann was geschehen muss. So sitzt der eine Bewohner noch beim Frühstück während der andere schon begeistert in der Tagesfördergruppe musiziert, webt oder einfach nur chillt. Ralf Tumat, derzeitiger Abteilungsleiter der „Blauen Arche“, zu diesem Konzept: „Im Gegensatz zur Werkstatt für behinderte Menschen gibt es in der Tagesfördergruppe keinen Produktionsdruck. Hier sollen sich die Bewohner in erster Linie wohl fühlen und im Rahmen ihrer Möglichkeiten gefördert werden“. Das gilt genauso für die Wohngruppen: Drei Stück gibt es für die inzwischen 38 Bewohner, diese sind nicht in sich abgeschlossen - die Bewohner können sich jederzeit gegenseitig besuchen, nur zu den Mahlzeiten sollte jeder Bewohner auf „seiner“ Gruppe sein. Gleichzeitig kann sich jeder Bewohner in sein individuell eingerichtetes Zimmer zurückziehen.
Und wer lieber in den Gemeinschaftsräumen zu Hause ist, hat viel zu sehen: „Da unsere Bewohner neben einer starken geistigen Behinderung auch gehörlos sind, freuen sie sich über eine bunte und schon von weitem gut sichtbare Dekoration. Dies ist in den Wohngruppen und der Tagesfördergruppe wichtig, vor allem aber auch in den Gemeinschaftsräumen,“ erzählt Ralf Tumat. Für das Hauswirtschaftsteam ist dies immer eine große Herausforderung, da die Deko von den Bewohnern auch gern mal um- und abgebaut wird.
Ein weiterer Pluspunkt der „Blauen Arche“ ist die räumliche Nähe zum landwirtschaftlichen Bioland-Betrieb „Paulinenhof“. Ob Reiten, Tiere streicheln oder Gerüche wahrnehmen – für die Arche-Bewohner ist ein Besuch auf dem Paulinenhof immer ein ganz besonderes Erlebnis. Natur pur gibt es aber auch innerhalb der „Blauen Arche“: So wurde darauf geachtet, dass auf dem Gelände nur ungiftige Pflanzen sind, damit es für die Bewohner unschädlich ist, wenn sie Pflanzen nicht nur fühlen und riechen, sondern auch schmecken wollen.
Trotz der räumlichen Entfernung zur Stadt sind die Arche-Bewohner nicht nur in Feld, Wald und Wiese unterwegs. Zum Alltag gehört ebenso der Bummel in der Fußgängerzone, der Besuch im Fast-Food-Restaurant oder gar das Mitlaufen beim City-Lauf in Esslingen. An diesem Wettbewerb nehmen jedes Jahr zwei Arche-Bewohner teil und haben sich dort inzwischen in die Herzen der Esslinger „gelaufen“. Auch die anfänglichen Bedenken der direkten Nachbarschaft wurden schnell zerstreut: Die Arche-Bewohner gehören inzwischen zum Stadtteil Winnenden-Hertmannsweiler einfach dazu und sind dort nicht mehr wegzudenken.
Immer wieder gibt es auch Bewohner, für die die „Blaue Arche“ nur eine Zwischenstation auf dem Weg zu einem selbständigerem Leben ist, andere finden dort ein Leben lang ihre Heimat.
Aus Anlass des 10jährigen Jubiläums wurden Mitte Mai die Angehörigen der Bewohner zu einem Fest geladen, bei dem nicht nur für das leibliche Wohl gesorgt worden war – die Bewohner selbst hatten für diesen Event einiges vorbereitet: So wurde in den letzten Wochen gemeinsam ein rotes Boot gebastelt, in dem sich die Eltern und Geschwister der Bewohner fotografieren lassen konnten. Ein Bewohner war zuvor mit der Kamera unterwegs und hat in einer Fotoserie seine Sicht der Dinge stolz präsentiert. Dabei waren nicht nur Räume und Bewohner zu sehen, sondern auch der Himmel. Ein schöneres Kompliment könnte man der „Blauen Arche“ nicht machen!